Samstag um vier (Kurzgeschichte zum Thema Unschuld)

Eigentlich war es eine blöde Idee. Im Nachhinein betrachtet. Und ich weiß auch gar nicht mehr, wie wir eigentlich darauf gekommen sind. Oder von wem es ausging. Vermutlich von uns beiden. Ja, bestimmt von uns beiden. Einfach weil wir keine Lust mehr hatten, die letzten in unserer Klasse zu sein, die ES noch nicht getan hatten. Die eben gerade keinen Freund und keine Freundin hatten. Gut, ich muss zugeben, ich hatte noch nie einen wirklich festen Freund. Und schon gar keinen, mit dem ich ES hätte tun wollen oder können. Als ich mit Fabian zusammen war, war ich vierzehn und hatte Pickel und nahezu keinen Busen. So wollte ich das doch nicht. Aber wie es jetzt mit Benji lief, wollte ich es eigentlich auch nicht – auch wenn Pickel weg und Busen da waren.

Wir hatten uns auf dem Heimweg darüber unterhalten. Dass ja jetzt bald die Klassenfahrt anstünde und so. Florenz. Eine herrliche Stadt, soll das sein. / Ja, habe ich auch gehört. / Und wir waren in Doppelzimmer untergebracht. / Cool. / Ja, cool. Peter will mit Lisa dann in einem Zimmer sein. / Das erlaubt Herr Weber bestimmt nicht. / Nö, aber muss er ja nicht mitbekommen. / Und was macht Vanessa? / Die ist doch jetzt mit Gunnar zusammen. / Echt? Wusste ich noch gar nicht. / Ja, doch. Seit ungefähr drei Wochen. / Dann haben wir ja jetzt vier Pärchen in der Klasse. / Hm. Und dann schwiegen wir, weil wir wussten, dass wir beide an das Thema dachten.

In der Klasse nannten sie uns schon die Frigiden. Super Titel. Vor allem, wenn man 17 ist und eigentlich auch mit den anderen mitreden will, aber sich halt einfach noch niemand gefunden hat, mit dem man ging. Ich will ja, habe ich dann schon zu Katte gesagt, als sie mich mal drauf ansprach. Dachte schon, ich wäre das Problem. Von wegen! Aber soll ich mich jetzt auf die Straße stellen, oder was? Kein Freund, kein Sex, kein erstes Mal. Freund, Sex, erstes Mal. Dann zweites und drittes. Eine einfache Rechnung. Katte hat mich verstanden, aber dennoch fühle ich mich den Blicken der anderen ausgesetzt. Vielleicht doch lesbisch, mutmaßen dann einige schon. Und Benji geht es ähnlich. Hatte halt auch noch keine dauerhafte Freundin. Tja, die zwei letzten der Klasse. Wir könnten es ja gemeinsam tun, dann hätten wir es hinter uns.

Und plötzlich stand diese Idee zwischen uns. Auf unserem Heimweg zur Schule, als wir uns eigentlich über Florenz angefangen hatten zu unterhalten. Und irgendwie bei ES TUN gelandet waren. Wir schauten uns beide ganz erschrocken an. Irgendwie klang es völlig vernünftig und schien die logischste Sache der Welt zu sein. Benji hatte noch nie. Ich hatte noch nie. In der Klasse wurden wir beide gehänselt. Er Junge, ich Mädchen. Die Sache war doch klar. Gut, meinte ich. Dann lass es uns tun. Warum nicht? / Ehrlich, Lea. Meinst du das ernst? / Ja, wegen mir. Ich zuckte mit den Schultern, so als ob ich total abgeklärt und cool wäre. Innerlich zitterte ich und wünschte mir dann doch irgendwie, dass er nein sagte und das als blöde Verrücktheit abtat. / Na gut. Okay. Wie wäre es mit Samstag? Er hatte nicht nein gesagt. Er hatte zugestimmt. Und so standen wir da vor seinem Haus und verabredeten uns zum Sex und zu unserem ersten Mal. / Samstag. Passt. Meine Eltern sind bei meiner Tante zu Besuch. Da muss ich nicht mit. Dann können wir es bei mir machen. / Auch gut. Dann bereitest du alles vor? / Klar. Wobei ich spontan keinen blassen Schimmer hatte, was ich vorbereiten sollte. Aber bis übermorgen waren es ja noch zwei fast volle Tage. Ich konnte also noch etwas im Internet recherchieren. / Cool. / Ja, cool. Bis morgen dann in der Schule. / Ciao. Wir standen da und wussten nicht, ob wir uns jetzt umarmen sollten. Tat man das, nachdem man sich gerade für Samstag zum Poppen verabredet hatte? Wir traten noch von einem Fuß auf den anderen, aber schließlich hob ich die Hand zum Gruß und fuhr mit dem Rad weiter.

Am nächsten Tag in der Schule versuchten wir beide, uns so gut es ging zu ignorieren. Wir waren unschlüssig, wie wir uns verhalten sollten. Und immer wieder schien mir, dass er auf mich zukommen wollte. Und zwischen Mathe und Englisch wollte ich schon auf ihn zu gehen und sagen, dass das eigentlich eine doofe Idee war. Aber dann kam die Pause, und wir standen auf dem Hof, und es war wieder die Sprache von Florenz und von diesem Zimmertausch, und wer nach den fünf Tagen wohl neu mit wem gehen würde, und ob Vanessa sich schon einen neuen nach Gunnar ausgesucht hatte. Die sei ja rege aktiv im Bett – nicht so wie manch andere, gell, Lea? Benji schaute mich an, und ich schaute ihn an. Dann lächelten wir beide. Beschlossene Sache. Morgen würden wir unsere Unschuld verlieren.

Was die Vorbereitungen betrafen, so wusste ich, dass das Bett frisch zu beziehen war, ich schauen musste, dass ich überall rasiert war und geduscht hatte und ich vielleicht besser noch meine letzten Plüschtiere vom Bett zu entfernen hatte. Aber sonst? Sollte ich vielleicht noch Kerzen aufstellen? Das Fenster lieber abdunkeln oder es hell belassen? Um 16 Uhr an einem Frühlingssamstag konnte es natürlich schon verflucht hell sein. Wollte ich das? Wollte Benji das? Taschentücher. Taschentücher neben das Bett legen, konnte nicht schaden. Vielleicht noch ein Handtuch auf das Laken, dann wäre das Laken nicht besudelt mit Blut. Das konnte laut Blogeinträgen im Internet sich ja auf ein Tröpfchen belaufen, aber auch einige Spritzer sein. Ich legte dann doch noch das alte Handtuch raus, dessen Fehlen dann nicht auffallen würde. Ich könnte auch direkt im Anschluss meine Bettwäsche wieder waschen. Und was war mit Kondomen? Brachte Benji welche mit oder sollte ich auch welche da haben? War das Teil der Vorbereitungen, die ich treffen sollte? Was war mit Musik? War eine softe Musik zu schwülstig, aber Die Ärzte zu abtörnend? Hörte man dabei überhaupt Musik? Und plötzlich wusste ich, warum Benji mir die Vorbereitungen so willigst überlassen hatte. Was tat er eigentlich in der Zwischenzeit?

Als Benji klingelte, war ich schon einmal mit den Nerven durch. Da musst du jetzt durch, Lea. Zumindest hast du dann das ganze Gespött hinter dir und kannst endlich mitreden. Mit 17 noch Jungfrau ging auch gar nicht. So hatte ich mir das selbst auch nicht vorgestellt. Ich öffnete Benji die Tür. Auch er war sichtlich nervös. Ich bat ihn herein und fragte, ob er was trinken wolle. Er schüttelte nur den Kopf. Gut, nichts trinken. Willst du meine neue Rayman-CD hören? Die ist echt cool. Die haben richtig gute neue Lieder. / Lea, können wir es nicht einfach tun und hinter uns bringen? / Ach so, ja klar. Kein Problem. Deshalb sind wir ja hier. Dann nach oben. Ich gehe mal vor. Gott, das ging ja gut los. OK. Kein Small Talk. Lass uns zur Sache kommen, Babe.

Ich führte ihn in mein Zimmer. Die Sonne schien herein und leuchtete jeden Winkel aus. Äh, ich glaube, ich lass mal etwas die Läden runter. / Cool. / Cool. (Ich machte es aber nicht ganz dunkel, weil ich nicht wollte, dass wir gar nichts mehr sahen.) Gut. Was meinst du, Benji, sollen wir uns ganz ausziehen? / Ähm. Klar. / Cool. / Cool. Wir standen beide in jeweils einer Ecke des Raumes und zogen mit dem Rücken zum anderen gedreht, unsere Sachen aus. Ich habe auch Kondome besorgt, rief ich über die Schulter. / Ich hab auch welche dabei, weil ich nicht wusste, ob du…, weil das ja eigentlich irgendwo die Sache der Jungs sein sollte…/ Klasse. Ne, find ich gut. Ich heb meine dann einfach mal auf. Ich war längst nackt und kam mir total bescheuert vor. Er vermutlich auch. Soll ich noch Musik anmachen? Ich dachte, vielleicht zum Hintergrund. / Klar, kann nicht schaden. Ich drückte auf meinen CD-Spieler, der direkt neben mir stand. Also ich wär’ soweit. / Ja, ich auch, murmelte er. Lass uns einfach umdrehen. / Gute Idee. Und das taten wir dann auch. Zwei nackte Menschen.

Er schaute direkt auf meinen Busen und dann auf meine Muschi. Ich blickte auf seinen Penis und sah, wie er steif wurde. Cool. Er schien mir nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Irgendwie gut, aber Gott, hatte ich Ahnung oder was? Jedenfalls schauten wir uns beide an, bis unsere Blicke schließlich wieder unsere Gesichter trafen und wir beide lachen mussten. Echt abgefahren, meinte er. / Stimmt. Wenn wir das mal unseren Enkelkindern erzählen. Die glauben uns kein Wort. Wir lachten. Dann sagte ich: Gut, wollen wir? Und mit einem Schlag waren wir wieder ernst. Er nickte. Ich stieg als erste ins Bett. Die Bettdecke hatte ich weggelegt, war ja eh viel zu warm. Ich legte mich kerzengerade hin, wie eine Tote im Sarg. Benji legte sich neben mich. Ich konnte seinen Steifen an meinem Schenkel spüren. / Schon komisch, meinte er. / Stimmt. / Äh, also ich wäre steif, und würde mir jetzt das Kondom überziehen, wenn es dir recht ist. / Klar, völlig. Mach ruhig. Ich sah zu, wie er aus seiner Faust eine kleine Kondompackung holte und sie öffnete. Gespannt und stumm schaute ich zu, wie er es sich über seinen Penis rollte. Er hatte zuhause bestimmt geübt, da war ich mir sicher. / OK. Ich bin soweit. / Gut, dann, ähm, also ich mach dann mal die Beine breit und du… Ich blieb besser stumm und hoffte, dass kein Mensch auf dieser Welt jemals unser Gespräch hören würde. Das war ja super peinlich. Ich machte aber tatsächlich die Beine breit und fühlte, wie Benji sich auf mich legte und sein Penis die Öffnung meiner Vagina absuchte. Benji war über mir, schaute aber an die Wand. Ich schaute rechts an seinem Kopf vorbei auf mein Regal. Ah, er schien meine Möse gefunden zu haben. Er schob seinen Schwanz vorsichtig weiter. Ich fand, er machte das sehr gut, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie es bei einem echten Pärchen funktioniert hätte, aber zumindest hatte ich keine dollen Schmerzen. / Tut’s weh, fragte er dann auch. / Nö, drückt nur ein bisschen, aber sonst OK. / Cool. / Ja, cool. Er schob sich weiter und dann war er, glaube ich, völlig drin. Jedenfalls ging es jetzt in diesem klassischen, was ich aus Filmen kannte, Vor und Zurück weiter. Und irgendwie gefiel mir das auch. Ich war vielleicht nicht super erregt, aber es war doch ganz nett und wesentlich besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Fand Benji wohl auch, denn nach ein paar Sekunden steigerte sich sein Stöhnen doch immens. Ich hatte meine Arme auf seinen Oberarmen und drückte. Und er stieß und stöhnte schließlich noch einmal lang auf. Seine Augen waren geschlossen, und er lächelte. Ich lächelte auch.

Äh, ich ziehe ihn jetzt mal wieder raus, OK? / Klar, mach das. Er hielt das Kondom fest beim Rausziehen und drehte sich dann weg. Er nahm ein Taschentuch – gut, dass ich den Stapel vorbereitet hatte – und wickelte es darin ein. Ich nahm auch ein Taschentuch und wischte mich unten herum ab. Es war tatsächlich nur wenig Blut auf dem Laken. Gut, dass ich kein Handtuch hingelegt hatte. Das hätte vermutlich doch mehr nach Schlachterei ausgesehen. Wir saßen beide auf unseren Bettkanten. Cool, sagte ich schließlich. Jetzt können sie uns nicht mehr frigide nennen. / Nein. Ich glaube auch nicht. Wie war es denn für dich? War es OK, ich meine, habe ich dir auch nicht zu sehr weh getan? / Nein, nein, Benji, das war echt OK. Es tat nicht sehr weh. / Ah, gut. / Und bei dir? Ich meine, war es für dich OK? / Ja, cool. / Cool. / Lea, sagen wir es den anderen denn? / Ich weiß nicht. Was meinst du? / Ich weiß auch nicht. Ist irgendwie seltsam. / Ja. Stimmt. / Ich zieh mich mal wieder an. Ich tat es Benji nach und zog mir meinen Rock und das Top über. Dann standen wir uns beide gegenüber. Er hielt noch immer das eingewickelte Kondom in seinen Händen. Das kannst du gerne mir geben, ich schmeiß es dann weg. / Danke. / Klar.

Gut. Äh, willst du jetzt noch was trinken? / Nein, ich denke, ich fahre wieder nach Hause. / Klar, kein Problem. Ich bring dich noch zur Tür. Ich hielt ihm die Tür auf und blickte hinaus auf diesen herrlichen Tag. Der Tag, an dem ich meine Unschuld verlor auf eine sehr sachliche und nüchterne Art. Einfach damit ich mitreden konnte und nicht mehr frigide genannt wurde. Und damit Benji nicht länger gehänselt wurde. Es war vermutlich gut so, gut so, wie es gekommen und gelaufen ist. Daran musste ich denken, als ich Benji gehen sah. Sah, wie er sich auf sein Rad schwang, aber noch nicht losfuhr. So standen wir beide da. Stumm. So gar nicht mehr unschuldig und doch irgendwie noch immer völlig naiv. Das war echt OK, Lea. Benji blickte auf und mich an. Das war gut. Danke. / Ja. Es war gut so und genau richtig. Danke dir. / Wir sehen uns Montag in der Schule. / Ja. Dir ein schönes Wochenende vollends.

Es hatte sich nichts geändert. Die Welt war die gleiche. Ich war die gleiche. Meine Mitschüler waren die gleichen. Montag kam und ging. Nachdem weder Benji noch ich etwas erzählen wollten, ging alles wie immer weiter. Es hatte sich nichts geändert, und doch war alles anders. Für Benji und mich. In unserem Wissen, ES getan zu haben und vielleicht nicht viele Worte darüber verlieren zu müssen. Und dennoch: Eigentlich war es eine blöde Idee gewesen. So im Nachhinein betrachtet. Und dann auch wiederum und bei längerem Nachdenken nicht.

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